Bericht «Flüchtige Tat» von Gabriel Magos

Bang Bang Museum Tinguely – 2./3. Juli 2022

Ich komme also mit meinem Objekt, mit dem ich zur Zeit schon seit einer rechten Weile unangekündigt im öffentlichen Raum unterwegs bin, komme ich hier her ins Tinguely Museum um im Rahmen von Bang Bang zum Thema «Flüchtige Tat» vier Performances anzuschauen und dazu etwas zu sagen und zu schreiben.

Auf dem Weg habe ich festgestellt, dass meine unangekündigten inoffiziellen manchmal eruptiven Performances mit diesem Objekt im öffentlichen Raum eigentlich meine Form der flüchtigen Tat sind.

Wie komme ich dazu, was mache ich, weshalb mache ich das überhaupt? Wieso muss das unangekündigt sein? Wieso muss das ausserhalb von jeglicher institutionellen Einbettung sein? Was mir übrigens immer wieder grosse Mühe bereitet, weil es nirgendwo anerkannt ist und weil ich sehr oft selber nicht weiss, wie komme ich zu dem, was stellt das dar.

Dass das also meine flüchtige Tat ist, was ich da mache und dass ich diese flüchtige Tat eigentlich seit ich zwölf bin mache. Ich bin schon als Zwölfjähriger in den öffentlichen Raum gegangen und habe am Zürichsee etwas hingetan, einen Pappbecher, und sass dann einfach da und wusste nicht, was passiert.

Es ging weiter, ich bin dann mit einem Holzrahmen unterwegs gewesen, mit einem roten Seil, mit einem roten Teppich, habe mit Kreide auf Boden und Wände gezeichnet. Ab 2014 war es ein grosses aufblasbares Tor in Menschenform, dann Kinderstühle,  der rote Türvorleger Redmat und seit 2019 Fahnen. Ich war mit Fahnen unterwegs, mit der weissen Fahne, in memoriam Max Daetwyler, dem Schweizer Friedensaktivisten mit der grossen weissen Fahne auch auf dem Roten Platz in Moskau, den ich 1960 am Bellevue erlebte wie er «Alle Menschen Brüder, legt die Waffen nieder» rief.

Und dann kam der 24. Februar 2022, der Überfall der russischen Armee auf die Ukraine. Russische Panzer.

Ich stehe hier wegen den russischen Panzern. Im November 1956 musste unsere Familie fliehen aus Ungarn. Ich war damals dreieinhalb. Ich habe ein Leben lang daran gearbeitet, das rauszukriegen, dass der Russe der Böse ist. Plötzlich von einem Tag auf den andern war das aber wieder aktiviert bei mir und ich konnte nicht mehr mit der weissen Fahne unterwegs sein.

Und dann ist dieses Objekt in mein Leben gekommen. Und mit diesem Objekt komme ich jetzt zum Tinguely Museum zum Thema «Flüchtige Tat» und frage mich: Ist denn die flüchtige Tat überhaupt möglich in einem Innenraum? Ist die flüchtige Tat möglich in der Institution? Mit dieser Frage bin ich hier herein gekommen.

Und der Erste, der sich mit dieser Frage abrackert, ist Darren Roshier – How can this performance (really) defeat capitalism?  Ich musste ihn nachher umarmen, denn er hat es echt versucht, mit allen Mitteln die Frage zu beantworten: Ist denn politische Aktivität in einem Kunst-Kontext möglich? Ist die flüchtige Tat in einem solchen Raum wie hier, wo so viel Geld drin steckt, möglich? Er hat die Hintergründe thematisiert, er hat über Roche gesprochen und den Jahreslohn der Direktion. Sehr clever hat er die Figur des Hofnarren für sich genommen. Er erzählte die Geschichte des Hofnarren, der eine rote Linie überschritten hatte und nur noch wählen konnte, auf welche Weise er sterben sollte.

Und seine Antwort war: Ich will an hohem Alter sterben. Damit hatte er die existentielle Pirouette geschafft. Und genau dies versucht Darren – versuchen wir wohl alle. Lasst uns jetzt hier den Kapitalismus besiegen. Da schwang und schwingt eine Art Galgenhumor mit. Darren erfand ein einfaches Vektoren-Gerät, mit dem er die finanzielle Effizienz mit der künstlerischen Effizienz vergleichen konnte.

Und er zeigte Video-Aufnahmen einer Gross-Demonstration in Belgien, wo er mit ebendiesem Gerät mitmarschierte. Ich fand das grandios. Ich selber bin an Demonstrationen mit der weissen Fahne und mit den Kinderstühlen mitmarschiert, aber ich habe dann aufgehört damit. Ich kriegte es nicht mehr auf die Reihe. Bei Darren hatte ich das Gefühl, dass er diese Kunst in der Demonstration als befreiend empfindet und deshalb musste ich ihn zum Schluss umarmen.

Darren wies auf die Kapitalismus-Kritik von Jean Tinguely hin und verlas zum Schluss ein Pamphlet – mittlerweile mit der Hofnarren-Krause um den Hals – an ein Bildnis des Roche CEO. Eine Radikalität, die Darren hinkriegt, weil er politisch auch sehr aktiv ist und aus dieser Erfahrung schöpfen kann.

Dann kam eine zweite Radikalität mit Claudia Barth und ihrer Mutter Trudi Barth – Forced to the ground.

Da wurde ein Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Raumes aufgerissen. Das war absolut subjektiv, persönlich. Claudia hat sich mit ihrer Mutter fallen lassen, immer wieder fallen lassen. Ich dachte, dass die Tochter die Mutter anleitet. Ein grosses Vertrauen zwischen den Beiden war da. Sie haben sich auch gerauft und im Hintergrund brannten zwei Sachen, es waren wie zwei Lebenslichter.

Da erschien mir etwas, das ich als das Generationenband empfand. Dieses Band, die familiären Bande, von Generation zu Generation, wo Übertragung stattfindet, im Guten wie im Schlechten, wo weitergegeben wird.

Im anschliessenden Gespräch erfuhr ich, dass es genau umgekehrt war. Die Tochter wollte das Sich-fallen-lassen von der Mutter lernen. Da habe ich das Generationenband zum zweiten Mal gesehen und bekam eine Ahnung von der zeitlosen Qualität dieses Bandes.

Und dann kam die dritte Radikalität. Dann war Ariane Andereggen – The Last European Happening dran.

Ariane hatte am Anfang so eine Art, irgendwie verwuselt, wo sind die Texte, was soll ich jetzt drannehmen, wie ist das jetzt mit dem Video, was könnte ich bringen …? Sie ist so rumgetigert und ich habe mich gefragt – ist sie nervös…was ist los ?

Und da ist mir ein Ausdruck von Richard Schechner eingefallen: partial inattention. Teilweise Unaufmerksamket. Wenn ich mit meinem Objekt in den öffentlichen Raum gehe, das steht dann einfach da, viele bemerken das gar nicht. Freunde fragen mich, wieso ich mich dem aussetze. Ich habe aber gemerkt, dass eine Aufmerksamkeit entsteht bei den Menschen. Bei praktisch allen. In der Hauptbahnhofshalle, wo sie auf den Zug eilen, weichen alle, z. T. zehntelsmillimetermässig, dem Objekt aus.

Diese kleine Regung, auf die ich hinarbeite, diese kleine Regung habe ich bei Ariane auch gesehen. Ich habe versucht, das zu benennen, es ist mir aber noch nicht gelungen. In diesem Moment reisst Ariane das nächste Fenster auf : Sie macht eine Direktschaltung nach Kolumbien, zu den Aktivistinnen von Bambazu.

Carmenza sprach zu uns.  Da habe ich gemerkt: Es ist fadengerade, was Ariane tut. Sie hat abgelenkt, um mich noch tiefer packen zu können. Oder anders gesagt: Dieses auf mich als verwuselt oder unorganisiert Wirkende ist im Grunde eine Strategie in der Auseinandersetzung mit dem Ungeheuerlichen, mit den schreienden globalen Ungerechtigkeiten.

«Im Museum Tinguely gibt es aktuell eine Ausstellung über einen Künstler, Schriftsteller, Veranstalter von mehr als 70 künstlerischen Manifestationen, der Jean-Jacques Lebel heisst. Er gehört zur europäischen 68er Generation, innerhalb derer er sich auch mit Anti-Faschismus, Anarchismus und dem Kolonialismus in Algerien beschäftigte. Er wird als erster Erfinder des Happenings in Europa rezipiert. Die Performance ist ein Versuch einer Aktualisierung dieser Rezeption in Bezugnahme auf den Eurozentrismus und weissen Feminismus gemeinsam mit Kunst-Aktivistinnen eines Black-feministischen Kontextes aus Latein-Amerika.» (Zitat)

Jetzt folgen meine Notizen, die ich während Arianes Performance gemacht habe:

Gemäss Alan Kaprow war Jean Jacques Lebel der erste Erfinder des Happenings in Europa

Das Happening damals war eine Trauer-Prozession für eine junge Frau

mit einem symbolischen Leichnam

einer Skulptur die in den Kanal geworfen wurde

Ein Femizid liegt diesem ersten Happening zugrunde

Ariane hat zwei Frauen eingeladen aus Kolumbien

die sie in Quito kennenglernt hat

Aktivistinnen, die selber von den

Goldminen betroffen sind

6 Tonnen Gold wurden aus Kolumbien in die Schweiz exportiert

Die Handarbeit der Frauen in Chokò

Das Quecksilber fliesst in den Fluss

Pharmazeutische Erzeugnisse aus der Schweiz

Komplexe Diskurse

auch auf einer bildlichen Ebene verdeutlichen

mit dem Erklär-Bären

Femizide – Frauen werden getötet oder auch Männer weil sie Frauen sind

Eine weltweite Struktur eines patriarchalisch kapitalistischen Systems

Weisser Feminismus

Carmenza ist nun auf dem screen

Ariane: Ich bin weiss werde älter bin weiblich gelesen und aus lower class

Carmenza auf dem screen

I was born on the boarder Colombia Panama

In a territory that doesn’t exist on the map

Vertreibungen und Tötungen finden statt

My family had to go

I was raped

But I am a beautiful woman

But I want this not to happen anymore

Ariane übersetzt nun Carmenzas spanischen Text

Es gibt viele Feminismen

Wir schwarzen Frauen tragen den Krieg auf unserer Haut

Ein Kampf der immer wieder geführt werden muss

….Kolonialpolitik…

Black feminists believe in our men

Feminismus der weissen Frauen macht dunkle Frauen

zu einer Einheit die sie nicht ist

This is a huge map of complexities

Bis 2015 hat die Schweiz 11 Tonnen Quecksilber nach Kolumbien exportiert

Bei uns geht es weiter mit Quecksilber und Gold

We were in Kaserne for performances, we saw the beautiful shops in Basel

Quecksilber bleibt im Klima, in the rain too

Gives Headache

NGOs in dieser Krisensituation

Ariane: Man könnte den Moralischen kriegen hier

Unternehmen bringen Menschen um

Rassistischer Kapitalismus

380  Menschenrechtsaktivisten wurden getötet

Gibt es Fragen aus dem Publikum ?

Who is Paula ?

Hallo ich bin Paula von Rio de mujeres

Soy fotografa

I like to change the narrative how people see Chocò

Binnenvertriebene

Was ist Menschheit ?

Anzahl der Femizide in Kolumbien

Was ist Natur ?

Akademische Kunstblasen – Wie Kunst machen ?

Menschen die zum Schweigen gebracht wurden

Menschheit – We are human beings

Binnenvertriebene

Geflüchtete

Struktureller Unterschied

Territorium

Körper ist auch Territorium

Vermessung der Erde ist auch Vermessung der Körper

Biodiversität

Our space in Chocò

Come to visit us

Change the narrative

We watch the video in silence – Chocò Strasse Menschen

Ariane zeigt Figürli

Ein dickes Buch «Chemie und Pharma in Basel»

Schutzgewänder, Schuhe, ein grosses Ei, ein Stab

Ein weisses Tuch, das Tuch bedeckt etwas, eine Musik kommt dazu

Ariane trägt das weiss bedeckte Objekt nach draussen

Das Video von Chocò läuft weiter

Ariane geht zum Tinguely-Brunnen, nimmt das weisse Tuch weg und lässt das Objekt in den Brunnen gleiten

Das Objekt schwimmt nun im Brunnen

Ariane ist für mich in diesem Moment eine Voodoo-Priesterin. Ich bin zutiefst berührt. In einem Schwebe-Zustand. Tieftraurig und federleicht.

In der nächsten Performance ist gar keine physische Präsenz mehr. Alex ist noch nicht da. Ein Film wird gezeigt.

Alex Baczynski-Jenkins – You are guest now, 2022

Als ich dreieinhalb Jahre alt war und wir geflüchtet sind, mussten wir alles zurücklassen. Nur die Kleider am Leibe, keine Papiere. Ich hatte Todesangst, habe die ganze Zeit geschrieen, wir sind durch den Todesstreifen gegangen, wo am Tag vorher 17 Menschen erschossen wurden.

Jenseits der Grenze standen die österreichischen Autos, die haben uns nach Wien gefahren, wir wurden herzlich empfangen. Wir bekamen Kleider, zu Essen, eine Bleibe – und dann sind wir rumgehängt. Wir hatten nichts zu tun. Plötzlich – wow, Freiheit. Und was jetzt ?

Das war ein Moment, der mich seit damals begleitet – jetzt wieder aufgewühlt – da war etwas drin in dem Moment, in diesem Flüchtlings-Moment, da war etwas drin von Auflösung, von Freiheit und gleichzeitig existentieller Angst. Es ist wie gleichzeitig und ineinander drin. Wenn man traumatisiert ist, geht man immer wieder an die Stelle, an diese Stelle zurück. Es ist schrecklich, es gibt Menschen, die deswegen ihr Leben beenden wollen, aber es hat auch eine unglaubliche Kraft, die ihren Lebensmut aus ihrer Verletzlichkeit schöpft.

Dieses Moment, diese Gleichzeitigkeit, diese Liquidität, diese Durchlässigkeit und gleichzeitige existentielle Bedrohung hat Alex mit seinem Film eingefangen. Ganz nahe dran an seinen befreundeten Performance-Menschen aus der queeren Community, die ja in Polen mittlerweile wirklich Angst haben müssen – ich habe 1994/95 als ich in Budapest arbeitete, bereits das Wieder-Erstarken dieses rechtskonservativ schwarzen National-Katholizismus gespürt.

Diese Sinnlichkeit, Zärtlichkeit, Intimität und diese Durchlässigkeit, wo all diese Fragen der Identität, was ist Sexualität, was ist Eros, was ist Spiritualität in der Schwebe sind, ins Fliessen kommen und wo und wie wird all dies politisch – und welche Rolle spielt da  – Alex hat im anschliessenden Gespräch – nachdem er auf Ende des Filmes eingetroffen ist – darauf hingewiesen, auch einfach die kindliche Freude an schönen Kleidern und Travestien.

Ganz am Schluss des Filmes sitzen zwei Menschen an einem Wasser und die Frage nach zukünftigen Plänen ist im Raum und sie sagt, ich weiss noch nicht so recht, ich habe mich noch nicht entschieden – und cut.

Dieser Moment hatte so etwas Beiläufiges. Und da ist mir ein Begriff eingefallen: Beiläufiger Widerstand. Casual resistance